Diagnostik von Phantomschmerz nach Extremitätenamputation

Nutzen der Avatar-Technologie

 

BG Klinik Tübingen

20.03.2023

M. Bressler, J. Merk, J. Heinzel, M.V. Butz et al.

doi: 10.3389/fresc.2022.806114

 

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Was bisher bekannt ist

Nach einer traumatischen Amputation der oberen oder unteren Extremität können Betroffene quälende Missempfindungen, Schmerzen, Krämpfe usw. der nicht mehr vorhandenen Gliedmaße (vereinfachend zusammengefasst unter dem Oberbegriff Phantomschmerzen) erleiden. Leitlinien, etwa diejenige der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), empfehlen, den Beginn und die Dauer, den zeitlichen Verlauf, die Schmerzqualität, Lokalisation und Intensität sowie schmerzauslösende Faktoren (Trigger) im Längsschnitt zu erheben, um die Effektivität der notwendigen Komplexbehandlung zu evaluieren. Dies geschieht üblicherweise mit etablierten Fragebögen wie dem McGill Pain Questionnaire (MPQ), Brief Pain Inventory (BPI) u.a., welche Schmerzpunkte und -regionen zweidimensional abbilden. Bisher existiert keine Methode, um das Phantom (also den fehlenden Gliedmaßenabschnitt) verlässlich und reproduzierbar in seiner Dreidimensionalität zu beschreiben. Moderne Methoden der Informationstechnologie und der virtuellen Realität (VR) könnten dies ermöglichen.

Studiendesign und Resultate

An der BG Klinik Tübingen wurde die Applikation C.A.L.A. (Computer Assisted Limb Assessment) in einer ersten Version mit frei verfügbaren Grafik-Programmen entwickelt, die finale Version allerdings basiert auf einer komplett selbstentwickelten Software. Diese ermöglicht mit Hilfe eines Avatars (also eines künstlichen, grafischen Stellvertreters) eine standardisierte Visualisierung und Dokumentation von Phantomgliedern und Phantomschmerzen. Betroffene können die häufig unnatürliche Größe und Position ihres Phantoms bestimmen und ihre Beschwerden auf den Avatar mittels Numerischer Rating Skala (NRS, 0 bis 10) wie bei üblichen Grafikprogrammen mit einer Pinselfunktion auftragen. Schmerzen werden von gelb (leicht) bis rot (schwer), Krämpfe von hellblau (leicht) bis dunkelblau (schwer) farblich illustriert.
In einer ersten klinischen Anwendung bewerteten 33 Therapeut(inn)en anhand von zwei fiktiven Fällen die Nutzerfreundlichkeit von C.A.L.A. auf der Basis der System Usability Scale im Mittel mit 82 ± 11 %. 22 Betroffene (8 Frauen, 14 Männer, mittleres Alter 52, Spanne 21 bis 73 Jahre) mit 12 Oberschenkel-, 5 Unterschenkel- und 5 Amputationen der oberen Extremität beurteilten das System im Hinblick auf die Genauigkeit der Abbildung des Phantoms und des Körperbildes mit Hilfe einer Likert-Skala von 1 (sehr ungenau) bis 5 (sehr genau). Die Mittelwerte lagen bei 4,6 ± 0,7 und 4,2 ± 1,0.
Der Funktionsumfang in C.A.L.A. wurde von den meisten Befragten als zufriedenstellend bewertet. Allerdings wurden erweiterte Möglichkeiten zur Dokumentation der Schmerzqualität und der Erfassung von Stumpfschmerzen gewünscht. Auch wurde eine detailliertere Modellierung der Hand und Finger im Avatar sowie der dort auftretenden Phantomschmerzen angeregt.

Bedeutung für die klinische Versorgung und Forschung in den BG Kliniken

Die Behandlung von Phantomschmerzen nach traumatischen Extremitäten-Amputationen ist ein zentraler Leistungs- und Exzellenzbereich der BG Kliniken. Die Tübinger C.A.L.A. Plattform stellt eine zukunftsweisende digitale Technologie dar, um das Phantom und dort auftretende Schmerzen und Beschwerden detailliert dreidimensional zu beschreiben. Im Zuge einer multizentrischen Phase-II-Studie müssen nunmehr an weiteren BG Kliniken Betroffene und Therapeut(inn)en C.A.L.A. hinsichtlich des Zusatznutzens im Vergleich zu etablierten zweidimensionalen Fragebögen beurteilen.