Ein GdB von 70 ist kein Hindernis
Jobperspektiven mit Schwerbehinderung
Ruhig, gelassen und lebensfroh – auf den ersten Blick wirkt Jasmin wie eine wissbegierige junge Frau, die mit großer Begeisterung von ihrer Ausbildung zur MFA im Bergmannsheil erzählt. Doch der Weg, den die 19-Jährige bis hierhin zurückgelegt hat, war lang. Bereits seit der 10. Klasse war die Bochumerin auf der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz, hat zahllose Bewerbungen geschrieben, Praktika absolviert und letztlich auch mit Hilfe der Bundesagentur für Arbeit einfach keinen geeigneten Ausbildungsplatz in ihrem Wunschbereich, dem Gesundheitswesen, gefunden.
„Für Menschen wie mich sind die Chancen, eine passende Ausbildung zu finden, gar nicht so leicht“, erklärt sie. Mit dieser Aussage weist die junge Frau auf die fast acht Prozent der schwerbehinderten Menschen hin, die derzeit in Deutschland leben. Fokale Epilepsie lautet der Bösewicht in Jasmins Geschichte – eine abgeschwächte Form der normalen Epilepsie, wie sie weitläufig bekannt ist. Die Erkrankung des zentralen Nervensystems führt bei den Betroffenen zu krampfhaften Anfällen. „Schwierig, wenn man bei der Behandlung mit Nadel oder Kanüle hantiert. Auch wenn ich unter einer abgeschwächten Form leide und medikamentös gut eingestellt bin, bleibt ein Restrisiko“, sagt Jasmin.
Ursache unbekannt
Eine vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns führt bei Menschen mit einer Epilepsie-Erkrankung zu körperlichen Anfällen, die verschieden stark ausgeprägt sein können. Auslöser sind Nervenzellen im Gehirn, die, plötzlich auftretend, synchron und für kurze Zeit unkontrolliert Impulse „abfeuern“. Die Auswirkungen reichen von Kribbelgefühl oder leichten Zuckungen einzelner Muskelpartien bis hin zu unkontrollierten Krampfanfällen des ganzen Körpers sowie kurzzeitiger Bewusstlosigkeit des Betroffenen.
Aus diesem Grund gilt die fokale Epilepsie als eine abgeschwächte Form, ist für die Betroffenen aber nicht weniger belastend. „Durch Schwindelgefühle und eine Art von Amnesie zeigt sich beispielsweise bei mir so ein Anfall. Ein Grund, warum das Hantieren mit Arzneimitteln für mich schwierig ist“, berichtet Jasmin. Wie die Krankheit ihren Weg zur Bochumerin fand, ist trotz zahlreicher Nachverfolgungsversuche nicht genau zu erklären. „Meine behandelnden Ärztinnen und Ärzte haben gesagt, eine Beschädigung von Nerven sei bei mir nicht erkennbar.“ Eine Vermutung legt jedoch nahe, dass der Ursprung eine Scharlach-Erkrankung im Kindesalter sein könnte.
Einfach kein Erfolg
Der sogenannte Grad der Behinderung (GdB) beziffert im Allgemeinen die Schwere der vorliegenden Behinderung – Jasmin hat einen GdB von 70. „Siebzig klingt viel, ist aber nur eine Zahl und kein Hindernis“, betont sie. Leicht hat es ihr die Suche nach einem Ausbildungsplatz aber nicht gemacht. Gemeinsam mit der Agentur für Arbeit hat die Bochumerin eine Bewerbung nach der anderen geschrieben. „Zwei Jahre lang ohne einen einzigen Erfolg“, gibt sie zu bedenken. Sogar mehrere Praktika im Gesundheitswesen, darunter beim Zahnarzt und in der Reha, hat sie absolviert. „Auch ich musste am Anfang testen, ob der Umgang mit Spritzen und Blut etwas für mich ist“, gesteht sie. Warum der Bochumerin mit Schwerbehinderung partout kein Ausbildungsplatz angeboten wurde, obwohl Fachkräfte im Gesundheitswesen händeringend gesucht werden, bleibt fraglich.
Drei Plätze pro Jahr bietet das Bergmannsheil für Auszubildende als Medizinische Fachangestellte. Eine der Bewerbenden: Jasmin. Gleich zweimal hat sie sich im Bergmannsheil beworben – für die Ausbildung zur MFA und auf eine Stelle für den Bundesfreiwilligendienst. „Ich wollte unbedingt in diesem Bereich ausgebildet werden. Also warum nicht alles versuchen, um hier Fuß zu fassen“, sagt sie. Eine Einstellung, die auch Ute Martella, Schwerbehindertenvertreterin im Bergmannsheil, überzeugt hat.
Förderung der Bundesagentur für Arbeit
Gemeinsam mit dem Inklusionsbeauftragten des Bergmannsheils, Julian Witte, hat sich Ute Martella mit der Bochumer Agentur für Arbeit in Verbindung gesetzt. „Da muss es doch eine Möglichkeit geben, habe ich gedacht“, so Martella. Und die gab es dann auch: Ausbildungsbegleitende Hilfen (kurz: abH) lautet ein Förderprojekt der Bundesagentur für Arbeit. Teilnehmen können junge Menschen wie Jasmin, die für einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss zusätzliche Hilfen benötigen, die der Ausbildungsbetrieb nicht leisten kann. „Die Hilfen können vielfältig ausfallen – von Sprachtherapie bis zur Wissensvermittlung in der Fachtheorie. Oder wie in Jasmins Fall eine sozialpädagogische Begleitung“, erläutert Martella. Einmal in der Woche besucht die Bochumerin den Spezialunterricht. Auch das bestehende Ausbildungskonzept im Bergmannsheil wurde auf Jasmins Bedürfnisse angepasst. „Wir haben die Anzahl der Ausbildungsbetreuenden erhöht und den Radius der interdisziplinären Rotationseinsätze verkleinert“, erklärt Ausbilderin Sabine Slavik. Unterstützung kommt auch hier von der Bundesagentur für Arbeit – denn im Rahmen des Förderangebots können Unternehmen für die Ausbildung einen Zuschuss zur Ausbildungsvergütung erhalten. In diesem Fall werden rund 80 Prozent des Gehalts aus dem dritten Lehrjahr für alle Ausbildungsjahre übernommen.
Ziel Traumberuf: Erreicht!
Da der Fachkräftemangel seit vielen Jahren ein breit diskutiertes Thema in der Gesellschaft ist, klingt es fast wie ein Widerspruch, dass schwerbehinderte Menschen wie Jasmin, die sich auf entsprechende Positionen bewerben oder sich dafür ausbilden lassen wollen, nicht eingestellt werden. Denn Fördermöglichkeiten und Kostenübernahmen der Bundesagentur für Arbeit sind, wie dieser Fall zeigt, durchaus gegeben.
Am 1. September 2020 begann Jasmin ihre Ausbildung zur MFA am Bergmannsheil. Heute hat die mittlerweile 22-Jährige ihre Ausbildung erfolgreich absolviert und ist in ein festes Anstellungsverhältnis übernommen worden. „Ich bin sehr froh, dass ich es geschafft habe. Es ist ein sehr befreiendes Gefühl“, berichtet Jasmin. Auf die Frage, wie sich ihr Berufsalltag gestaltet und ob sie, jetzt nach der Ausbildung, noch besondere Unterstützung benötige, antwortet sie stolz: „Mein Arbeitsalltag gestaltet sich aktuell sehr angenehm. Ich benötige zurzeit keine Unterstützung mehr und arbeite eigenständig.“ Auch ihre Ausbilderin, Sabine Slavik, ist sehr zufrieden mit ihrer bisherigen Entwicklung: „Jasmin beeindruckt täglich mit ihrer Wissbegierde und Freude, fortan Teil des Bergmannsheils zu sein. Das Team unterstützt sie darin mit Herz und Verstand.“
Jasmins Einstellung beweist: „Nicht alles im Leben ist einfach. Aber man findet immer einen Weg, der zum Ziel führt. Und nur, weil man eine Schwerbehinderung hat, heißt es noch lange nicht, dass man es nicht kann.“