Die Prothese als fester Bestandteil des Körpers
Für Menschen, die einen Arm oder ein Bein verlieren, werden alltägliche Aufgaben plötzlich zur Herausforderung. Klassische Prothesen sind im Alltag häufig hinderlich, verursachen mitunter sogar Schmerzen. Hilfe erhalten betroffene Patienten ab sofort in der BG Klinik Tübingen.
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18.02.2021Als Thilo Karner (Name geändert) an jenem Morgen zur Arbeit fuhr, ahnte der Bauhelfer noch nicht, dass dies sein vorerst letzter Arbeitstag werden würde. Doch nur wenige Stunden nach Schichtbeginn ereignete sich der tragische Unfall: Versehentlich geriet der 40-Jährige mit seinem rechten Arm in eine Baumaschine. Der alarmierte Rettungsdienst brachte den schwerverletzten Mann sofort in die BG Klinik Tübingen (BG). Doch auf Grund der traumatischen Verletzungen konnten die Ärzte nur noch den Oberarm des Familienvaters amputieren. Trotz einer mechanischen Prothese und der großen Unterstützung durch seine Frau und die Kinder, begann danach eine herausfordernde Zeit für Karner. "Die Prothese war für mich im Alltag sehr umständlich", erinnert er sich zurück. "Zudem war ich vor dem Unfall Rechtshänder und musste somit auch erst lernen vermehrt mit Links zurechtzukommen. Hinzu kamen starke Schmerzempfindungen im rechten Arm, obwohl dieser natürlich nicht mehr vorhanden war." Ein Phänomen, das nach der Amputation eines Körperteils auftreten kann und von Experten daher auch als Phantomschmerz bezeichnet wird.
Nach medizinischer Beratung durch PD Dr. med. Jonas Kolbenschlag, Leitender Oberarzt der Hand-, Plastischen, Rekonstruktiven und Verbrennungschirurgie, entschied sich der ehemalige Bauhelfer vor wenigen Wochen für eine weitere Operation. Das Ziel der Mediziner: Die klassische Prothese durch eine sogenannte Osseointegration langfristig mit dem Körper zu verbinden. Dafür wird eine stabile Halterung im Knochen des Stumpfes verankert. An dieser Verankerung befestigen die Chirurgen einen Titanstab, welcher durch die Haut nach Außen tritt. An dieser Halterung kann anschließend die Prothese befestigt werden. "Im Heilungsprozess wachsen die Knochenzellen dann direkt an der metallischen Verankerung an", erklärt Kolbenschlag das Konzept, das ursprünglich aus der Kieferchirurgie stammt. "Es entsteht also eine direkte Verbindung der Prothese mit dem Skelett. Dadurch sind die Patienten wesentlich mobiler und haben weniger Schmerzen auf Grund reduzierter Druckstellen. Diese entstehen bei konventionelle Prothesen häufig durch das Gestell, welches die Prothese außerhalb des Körpers mit dem Stumpf verbindet." Um das neue Verfahren erstmals an der BG durchführen zu können, stellte Kolbenschlag ein Team aus erfahrenen Medizinern und Wissenschaftlern zusammen, die an der Tübinger Klinik intensiv zur Verbindung von Biologie und Mechatronik forschen. Zur weiteren Unterstützung reiste zudem der Erfinder der Osseointegration, Prof. Dr. med. Rickard Brånemark, aus den USA an, um die Operation des verunglückten Bauhelfers zu begleiten. Und das mit Erfolg: In einer zweistündigen OP befestigten die Mediziner die Halterung im Knochen des Oberarmstumpfes. Auf Grund der individuellen Knochenstruktur des Patienten wird in einer zweiten Operation der Titanstab mit der Halterung im Knochen verbunden werden. "Schon bald werde ich eine funktionierende Prothese tragen können", freut sich der 40-jährige Patient auf das abgeschlossene OP-Ergebnis.
Die Osseointegration kann sowohl in kleinen, als auch größeren Gliedmaßen durchgeführt werden. Auch ein amputierter Daumen wurde bereits erfolgreich in der BG nach dieser Technik versorgt. Weitere Patienten sind bereits geplant. Damit ist die Tübinger Klinik eines der ersten Krankenhäuser in ganz Deutschland, das dieses Verfahren für Arme und Hände anbietet. Aber auch Menschen mit einer Beinprothese können ab sofort mit Hilfe der Osseointegration in der BG behandelt werden.
(Foto v.l.n.r.: Dr. med. univ. Johannes Heinzel, Dr. med. scient. MSc BA Cosima Prahm, PD Dr. med. Jonas Kolbenschlag, James Sheridan, Prof. Rickard Brånemark, Univ.-Prof. Dr. med. Adrien Daigeler, Karin Kelvered)