Betroffene unterstützen Betroffene: Mit Peer Counseling Mut machen
Nach einer Querschnittlähmung fragen sich viele Menschen, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. In den BG Kliniken werden sie deshalb von anderen Betroffenen begleitet.
Durch die Wucht des Aufpralls bricht sein sechster Halswirbel. Der damals 23-jährige Student wird zurück nach Deutschland geflogen – ins Zentrum für Rückenmarksverletzte in der BG Unfallklinik Murnau. Die Diagnose lautet Tetraplegie. Beine und Arme sind gelähmt. „Ich war körperlich und mental ziemlich fertig.“ Heute kehrt Müller regelmäßig in die Klinik zurück, als Mentor. Das Konzept dahinter nennt sich Peer Counseling – Betroffene helfen Betroffenen.
In Murnau und anderen BG Kliniken treffen „frisch“ Querschnittgelähmte auf ehemalige Patienten, die sich eine positive Zukunft aufgebaut haben. Fabian Müller zum Beispiel ist Mentor für Moritz. Der 21-Jährige ist seit einem Mountainbike-Unfall in den Bergen ebenfalls an Beinen und Armen gelähmt. „Ich kann mich in seine Lage versetzen und ihm sinnvolle Tipps geben“, sagt Müller. „Dadurch entsteht schnell ein Vertrauensverhältnis.“ Das kann Dr. Doris Maier, die das Zentrum für Rückenmarksverletzte in Murnau und das Peer-Programm leitet, nur bestätigen: „Es hat eine ganz andere Glaubwürdigkeit, wenn ein Querschnittgelähmter den Frischverletzten sagt, was sie alles erreichen können, als wenn das ein Arzt macht.“
Die Zeit nach dem Klinikaufenthalt ist besonders schwer
Fabian Müller weiß aus eigener Erfahrung zu berichten, wie wertvoll es ist, wenn einem jemand zur Seite steht, der das alles selbst schon durchgemacht hat: „Erst nach dem Klinikaufenthalt realisiert man zumeist: Ich bin ja derjenige, der im Rollstuhl sitzt – und alle um mich herum haben nichts. In der Klinik ist man ja von Gleichen umgeben. Auf einmal ist man zuhause und da öffnet sich nicht jede Tür von alleine. Man fragt sich, wie alles weitergeht.“
Ein cooler Typ gibt Starthilfe
Auch Fabian Müller hatte einen „Peer“, der ihm Mut gemacht hat. „Das war ein cooler Typ. Er hat als erster Tetraplegiker einen Pilotenschein gemacht. Das erzählte er mir zu der Zeit, in der ich mich zuhause gerade mal so vom Rollstuhl ins Bett quälen konnte. Er hat mich unheimlich beeindruckt und motiviert, nicht aufzugeben.“ Mittlerweile hat Müller sein Studium abgeschlossen und arbeitet festangestellt als Integrationsberater. In ein paar Monaten heiratet er. „Es ist genauso leicht oder schwer, mit oder ohne Behinderung, Menschen kennenzulernen – es kommt ganz auf Deine Einstellung an“, sagt er lächelnd.
Kontakte über Sport knüpfen
Orpheus Mach, wissenschaftlicher Studienkoordinator am Zentrum für Rückenmarkverletzte, motiviert die Patienten zum Sport: „Dabei werden Freundschaften geschlossen, die auch nach der Klinikzeit bestehen.“ Mach war jahrelang Sportlehrer an der BG Unfallklinik Murnau und hat den Frischverletzten das Rollstuhlfahren beigebracht. Wöchentlich trainiert er noch die Basketballmannschaft des Rollstuhlsportvereins. Er kennt die Patienten und ihre Geschichte – und er weiß, wer Hilfe gut gebrauchen und wer der geeignete Mentor sein könnte.
Fabian Müller rät allen Betroffenen: „Zieht euch nicht zurück! Schämt euch nicht!“ Er selbst spielt Rollstuhlrugby – ein paar Jahre lang sogar in der Nationalmannschaft. „In der Klinik in Murnau gibt es einen eigenen Rollstuhlsportverein. Dort habe ich während meiner Reha verschiedene Sportarten ausprobiert. Das hat mir damals einen unheimlichen Schub gegeben.“
Mit dem Rollstuhl in die erste Bundesliga
Auch Laura Fürst ist Mentorin im Rahmen des Peer Counseling. Sie war 16, als sie während eines Austauschjahrs in den USA mit einem Snowmobil gegen einen Baum fuhr. Es folgte eine Reha in Murnau: „Dort habe ich nicht nur gelernt, wie ich mit dem Rolli fit durch den Alltag komme, sondern ich habe auch das Rollstuhlbasketball für mich entdeckt.“ Seit 2014 spielt Fürst in der ersten Bundesliga. Ihr nächstes Ziel: Die Paralympics in Tokio 2020. In Murnau hat sie auch ihren Freund kennenlernt, mit dem sie inzwischen zusammenwohnt. Trotz Behinderung hat sie ihr Ingenieurstudium abgeschlossen und inzwischen eine Festanstellung bei BMW.
Freundinnen fürs Leben
Laura Fürst hat sich trotz des Schicksalsschlags ihren Optimismus bewahrt und blickt voller Zuversicht in die Zukunft – damit ist sie genau die richtige Mentorin, die Lilly Mut machen kann. Die 16-Jährige wurde im Mai 2019 auf dem Weg zur Schule von einer Straßenbahn angefahren – seitdem sitzt sie im Rollstuhl. Lilly ist wie Laura an den Beinen gelähmt. Doch was Laura erreicht hat, macht ihr Mut – und motiviert sie zum Sport. „Durch das Rollstuhlbasketballspielen bin ich nicht die ganze Zeit gedanklich mit dem Unfall beschäftigt, sondern mit etwas abgelenkt, das mir Spaß macht.“ Lilly ist nach drei Monaten Aufenthalt in der Klinik inzwischen wieder zuhause bei ihren Eltern. Während ihrer Zeit in Murnau hat sie, neben ihrem Peer Laura, viele Kontakte zu Querschnittgelähmten geknüpft. „Es tut so gut, mit meinen Sorgen nicht alleine zu sein. Ich habe nach wie vor Kontakt zu ihnen, und ich glaube, dass der Kontakt für immer bestehen bleibt.“
Interview mit Dr. Doris Maier
Was genau bedeutet Peer Counseling?
Peer Counseling bedeutet, dass frischverletzte Patienten mit der Diagnose Querschnittlähmung von ehemaligen Patienten beraten werden und von deren Erfahrung profitieren. Dabei können sie alle sensiblen Themen besprechen, die ihnen auf der Seele liegen.
Welche Patienten bringen Sie mit einem Peer in Kontakt?
Patienten, die an einer Klippe stehen und die jemand brauchen, der ihnen zeigt, dass nicht alles aussichtslos ist und das Leben weitergeht. Peer-Arbeit benötigt Fingerspitzengefühl.
Wer eignet sich als Peer?
Ehemalige Patienten, die sehr empathisch sind, eine besondere Ausstrahlung und große Überzeugungskraft haben. Aus dem Pool an Patienten, die wir im Laufe der Zeit kennengelernt haben und begleiten durften, sprechen wir die geeigneten Charaktere an.
Wie bringen Sie die Patienten mit ihren Peers in Kontakt?
Wir haben in der Klinik einen eigenen Rollstuhlsportverein. Dieser ist eine wichtige Säule des Peerings. Hier treffen Patienten auf Ehemalige. Und es finden sich die Menschen, die zueinander passen. Wir bringen aber auch gezielt, kurz vor der Entlassung, Patienten mit geeigneten Peers in Kontakt.
Gibt es auch Hilfe für die Angehörigen?
Auf Initiative von Thomas Franz, einem ehemaligen Patienten und selbst hochgelähmten jungen Mann, ist der Verein 360 Grad entstanden. Er sagte, nicht nur die Patienten, sondern auch die Angehörigen seien Opfer und benötigen Hilfe. Deshalb hat er ein Café bei uns auf dem Gelände gegründet. Zweimal im Monat können die Angehörigen von Frischverletzten ihre Sorgen und Nöte hier loswerden und werden von ehemaligen Patienten beraten – das ist auch Peer-Arbeit, und zwar eine sehr wichtige.
Dr. Doris Maier leitet das Zentrum für Rückenmarksverletzte in Murnau.
Mehr Informationen: https://www.bgu-murnau.de/behandlungsspektrum/chirurgische-bereiche/rueckenmarkverletzte/
Mehr Informationen über den Verein 360 Grad: https://www.360grad-ev.de/information/
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