„Ich gehe hier raus“
Beidseitig amputierter Patient mit großen Zielen
Es klingt unvorstellbar, was Werner Stähler am 9. Juli widerfahren ist: Der 64-jährige Baggerfahrer aus Siegen war gerade mitten in seiner Schicht auf dem Schrottplatz unterwegs, als er plötzlich von einem LKW überrollt wurde. Sieben endlos lange Meter schleifte ihn der LKW mit. Stählers erster Gedanke: „Das ist dumm gelaufen.“ Dass diese Aussage die Dramatik des Unfalls nicht mal im Geringsten erfasst, wurde beim Anblick seiner Beine sofort klar: Sie waren völlig zertrümmert. Stähler war während des gesamten Unfallhergangs bei Bewusstsein. Er schrie so laut, dass seine Kollegen zur Hilfe eilten. Doch die mussten sich beim Anblick seiner Beine erstmal abwenden. Ein Kollege überwand sich schließlich und band Stählers Bein ab. „Hätte der Kollege nicht gehandelt, wäre ich sicherlich vor Ort verblutet“, erinnert sich der zweifache Vater 23 Wochen nach dem Unfall. Vor wenigen Wochen erst wurde er aus dem BG Universitätsklinikum Bergmannsheil entlassen. Die Beine hat Stähler zwar verloren, seine Lebensfreude ist aber ungebrochen. „Ich gehe hier als glücklicher Mann raus.“
17 Operationen notwendig
Als der Krankenwagen kam, wurde Stähler direkt „schutz-intubiert“. Sein Bewusstsein erlangte er erst vier Tage später wieder, als er längst im Bergmannsheil lag. Am Unfalltag wurde Stähler in einer Siegener Klinik notoperiert. Der ärztliche Dienst entschied sich kurzerhand, ihn noch am selben Tag mit einem Rettungshubschrauber nach Bochum ins überregionale Traumazentrum Bergmannsheil zu fliegen. „Es zeigten sich multiple und komplexe Frakturen beider Beine und ein ausgeprägter Weichteilschaden“, erinnert sich Oberarzt Matthias Niemeier aus der Chirurgischen Klinik im Bergmannsheil, der Stähler an diesem Tag in Empfang genommen hatte. Die Weichteilverletzungen bereiteten dem Notfallteam große Sorgen. Haut, Muskeln, Faszien – alles hat gefehlt. Vor allem das rechte Bein war teilweise bis auf die Knochen freigelegt. „Zusätzliche Blutungen haben die Situation für Herrn Stähler lebensbedrohlich gemacht“, erinnert sich Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer, Direktor der Chirurgischen Klinik am Bergmannsheil. „Generell hat das enorme Ausmaß der Verletzungen den Extremitäten-Erhalt von Anfang an in Frage gestellt.“ Eine zweite Not-OP erfolgte aufgrund der Dringlichkeit noch am Unfalltag im Bergmannsheil. Ein weiterer Sorgenfaktor kam noch hinzu: Der Schmutz in Stählers Wunden, der durch die dreckigen und teils mit Metallsplittern gespickten Reifen des LKWs verursacht wurde, sorgte immer wieder für Infektionen. Bis heute musste Stähler 17-mal operiert werden.
Neue Ziele setzen
Als Stähler nach dem Unfall vom ärztlichen Dienst schließlich wieder aufgeweckt wurde, war rechts nur noch ein halber Oberschenkel zu spüren. Der Unterschenkel war so stark infiziert, dass am Tag zuvor eine lebenserhaltende Entscheidung getroffen werden musste: Die Amputation des rechten Unterschenkels. Eine Woche lang war Stähler, wie er heute selbst sagt, „ziemlich neben der Spur“. Dann habe er realisiert: „Was passiert ist war schlimm, aber ändern lässt es sich ja doch nicht mehr. Also werde ich damit leben und mir neue Ziele setzen“ – auch mit Gedanken an seine Familie, die er schnellstmöglich wieder sehen wollte. Über sechs Wochen zog sich anschließend der Kampf um Stählers linkes Bein. „Zunächst sah es danach aus, als könnte man zumindest das linke Bein erhalten“, erklärt Matthias Niemeier. „Über einen Zeitraum von einem Monat führten wir mehrere Operationen durch. Aber am Ende konnten die immer wiederkehrenden Weichteilinfektionen nicht beherrscht werden.“ Letztlich war es auch der Patient selbst, der sich zu dem drastischen Schritt entschlossen hatte. „Meine Schmerzen links waren enorm. Ich war jede Nacht wach“, erinnert sich Stähler. Nach einem gemeinsamen „Geschwätz“, wie Stähler das Gespräch nennt, mit dem ärztlichen Dienst und seiner Frau, die als Unfallchirurgin selbst einen realistischen Blick auf die Situation werfen konnte, stand die Entscheidung fest: Knapp sechs Wochen nach dem Unfall amputierten die Chirurginnen und Chirurgen des Bergmannsheils auch noch das linke Bein unterhalb des linken Knies. Sich zu diesem Schritt durchzuringen, fiel Stähler nach eigenen Angaben zufolge nicht mehr so schwer: „Es war die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können. Ich habe nur noch daran gedacht, dass es dadurch jetzt endlich bergauf geht.“
Spezielles Rehabilitationsprogramm nach Akutversorgung
Durch die enge Verzahnung der Akut- und Reha-Medizin am Bergmannsheil konnte Stähler schon zwei Monate nach dem Unfall hausintern in die Abteilung für BG Rehabilitation verlegt werden. Hier erhielt er ein spezielles Rehabilitationsprogramm, die sogenannte Komplexe Stationäre Rehabilitation (KSR). Sie wird ausschließlich in den BG Kliniken angeboten. „Diese spezielle Behandlungsform richtet sich an Patientinnen und Patienten, die eine intensive therapeutische und pflegerische Unterstützung benötigen“, so Dr. Sven Jung, Leiter der Abteilung für BG Rehabilitation. „Vier bis sechs Stunden am Tag trainieren die Betroffenen in Einzeltherapiestunden an sechs Tagen in der Woche. Bei Bedarf wird Unterstützung von den Kolleginnen und Kollegen aus den Akutabteilungen geleistet. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet den Betroffenen bestmögliche Therapiechancen.“ Die erste Herausforderung für Stähler kam mit dem Rollstuhltraining. Gleichzeitig galt es zahlreiche Krafteinheiten zu absolvieren, um Muskulatur im Oberkörper aufzubauen. „Ich habe täglich Gewichte gestemmt, da ist man abends ordentlich ausgepowert“, berichtet der 64-jährige. Im ärztlichen Jargon nennt man diesen Zeitpunkt auch „Turn-around“. Die Betroffenen sind hier erstmals direkt damit konfrontiert, wie eingeschränkt sie wirklich sind. „Das kann im Rahmen der Rehabilitation auch noch psychologische Aspekte hervorrufen“, erklärt Dr. Jung. Nicht so bei Stähler: „Ich gehe hier raus“, verkündete er schon bei der Übernahme in die Rehabilitation.
Das Gehen neu erlernen
Nachdem die Orthopädie-Technik die ersten Prothesen zur Probe angefertigt hatte, begann Stähler sein Ziel vor Augen in die Tat umzusetzen. Mit der Gangschule begann das mühsame Lauftraining. Die ersten Gehversuche fielen Stähler unheimlich schwer. Es sei sehr wackelig und schwer sich an die Prothese zu gewöhnen, sagt er, es seien eben nicht die eigenen Beine. „Wie ein Kind muss man das Gehen von Grund auf neu erlernen“, erklärt Prof. Dr. Schildhauer. „Hirn und Rückenmark müssen sich erst wieder gemeinsam koordinieren. Denn es bleibt nur ein kurzer Hebel am Oberschenkel, der die Prothesenbewegung ausmacht.“ Stähler bewies einen festen Willen, trainierte vier Stunden täglich und wagte sich schon bald an die Königsklasse: Das Treppensteigen mit Prothesen und Gehhilfen. „Mutig und risikobereit, ich denke das beschreibt Herrn Stähler sehr gut“, berichtet Jutta Thiele, Physiotherapeutin am Bergmannsheil, die Stähler viele Reha-Stunden lang begleitet hat. „Seine Offenheit für neue Therapiesituationen und sein herzlicher Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen haben uns sehr beeindruckt. Er war und ist ein Rehabilitand auf den wir eher bremsend als motivierend einwirken müssen – im positiven Sinne.“ Sechs bis neun Monate vergehen in der Regel, bis das Laufen wieder automatisch funktioniert. Ein viel zu langer Zeitraum, wenn es nach Stähler geht: Spätestens in einem dreiviertel Jahr will er ohne Gehhilfen laufen können. Dass er alles daran setzen möchte, wurde in einer Therapiestunde deutlich, als Stähler sich plötzlich drauf und dran macht, eine Kletterwand in der Sporthalle zu erklimmen. „Die ist definitiv nicht für beidseitig amputierte Patientinnen und Patienten geeignet“, schmunzelt Dr. Jung aus der Rückschau. Stähler sieht es gelassen: „Da mussten mich die Therapeutinnen und Therapeuten schon bremsen. Ich habe einfach zu viel Unsinn im Kopf.“
Starke Mentalität
Sein Schicksal annehmen und das Beste draus machen – das hat Stähler sicherlich getan. Woher er seinen Optimismus zieht und die Stärke dafür aufbringt? Sein persönliches Umfeld und seine Familie, seine Frau und Kinder, all das gibt ihm täglich neue Kraft. „Die Genesung hängt stark von der Mentalität der Betroffenen ab, ob sie mit beiden Beinen im Leben stehen oder in diesem Fall eben mit beiden Prothesen“, so Prof. Dr. Schildhauer. Auch einen Groll gegen den LKW-Fahrer, der ihn nicht gesehen und überrollt hatte, hegt er nicht: „Ich habe nicht einen Tag daran gedacht, was wäre, wenn er oder ich besser aufgepasst hätten.“ Dass der Unfall ausgerechnet während der Arbeit passiert ist und er in einer BG Klinikbehandelt wurde, auch darüber ist er froh. Die Berufsgenossenschaft kümmert sich nicht nur um die Initialausstattung mit den Prothesen, sondern hilft auch beim behindertengerechten Hausumbau. Die entsprechenden Maßnahmen sollen in nächster Zeit erfolgen. Ob er weiterhin in seinem Job arbeiten möchte, hat er noch nicht entschieden. Was seine erste Handlung aber sein würde, als er das Krankenhaus verlassen konnte, wusste er genau: „Wenn ich nach Hause komme, mache ich mir erstmal ein Schwarzbrot mit Spiegelei und Schinken. Vielleicht schmeiße ich auch den Grill an, das habe ich den ganzen Sommer über verpasst.“
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