Experteninterview
mit Prof. Dr. Christoph Hirche
Therapiekonzepte und innovative OP-Techniken zum Lymphödem
Sie haben als Plastischer Chirurg den Blick auf die OP-Techniken, aber muss denn immer gleich operiert werden?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Die Initialbehandlung des Lymphödems ist tatsächlich keine vordergründig chirurgische Behandlung, die Patientinnen und Patienten mit hohem Risiko oder akut aufgetretenem Lymphödem bekommen entweder eine Art prophylaktische Behandlung, um das Auftreten des Lymphödems zu verhindern oder frühtherapeutisch eine Behandlung, die sog. komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE). Bei der KPE handelt es sich um ein multimodales Therapiekonzept, das verschiedene Behandlungsmaßnahmen kombiniert. Die fünf Säulen der KPE sind manuelle Lymphdrainage, Kompressionstherapie, Bewegungstherapie, Hautpflege und Selbstmanagement.
Neuere mikrochirurgische Ansätze zielen allerdings auch auf eine prophylaktische lymphatische Chirurgie bei Hochrisikopatienten.
Wenn das nicht ausreichend Erfolg hat und das Lymphödem trotz dieser intensiven Maßnahmen auch einschließlich stationärer Rehabilitation über mehr als sechs Monate verbleibt, spricht man von einem chronischen Lymphödem. Hier gibt es drei verschiedene Stadien: Im ersten Stadium kann sich die Flüssigkeit über das verbleibende intakte Lymphsystem bei einem Hochlagern wieder zurückbilden, weil noch eine Restdrainage vorhanden ist. Im zweiten Stadium reicht diese Kapazität nicht mehr aus und selbst mit intensiver Therapie ist die Einlagerung von Lymphflüssigkeit nicht mehr vollkommen umkehrbar – es bleibt ein Dauerreiz im Gewebe. Das dritte Stadium ist das Endstadium, in dem das Gewebe nicht mehr flüssig und wegdrückbar ist, sondern tatsächlich verhärtet. Es bilden sich zunehmende Hautveränderungen und der Teufelskreislauf der Verhärtungen und Einschränkungen geht stets weiter. In diesem Stadium können auch bösartige Tumoren in der Region an der Haut auftreten.
Wir versuchen natürlich, die Patienten und Patientinnen mit den Therapien in einem frühen Stadium zu halten. Wenn dies jedoch nicht mehr möglich ist und sich der Zustand des Betroffenen verschlechtert oder die Patienten/Patientinnen einen hohen Leidensdruck verspüren, kommen mikrochirurgische oder auch sogenannte supermikrochirurgische OP-Techniken zur Anwendung, die mit verschiedenen Ansätzen die Funktionen des Lymphsystems wiederherstellen können. Die Indikation ist hier das chronische Lymphödem mit einer erfolglosen Therapie nach 6 Monaten oder einer Verschlechterung."
Welche operativen Ansätze sind das, die Sie und Ihr Team an der BGU Frankfurt zur Behandlung des chronischen Lymphödems anbieten?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Es gibt zwei große Kategorien an Eingriffen, die sogenannten wiederherstellenden, rekonstruktiven Verfahren mit Ableitung oder Ersatz der Lymphknotenstation und die ablativen Verfahren, bei denen Gewebe in der Menge zur Erleichterung reduziert wird. Diese sind vom Stadium sowie von der Schwere und dem Ausmaß der Lymphbahnschädigung und der Restfunktion abhängig.
Zum einen gibt es die Patienten und Patientinnen, die noch ein teilweise intaktes Lymphsystem haben, die also noch intakte, funktionierende Lymphbahnen haben, die aber nicht mehr richtig über das System ableiten können.
Dann gibt es Patienten und Patientinnen, bei denen überhaupt keine intakten Strukturen mehr vorhanden sind, sodass man auch nicht mehr auf das intakte Lymphsystem oder auf ein funktionierendes Restsystem zurückgreifen kann.
Um dies zu unterscheiden, müssen wir eine sehr individuelle und feine, funktionelle Diagnostik durchführen.
Das ist zum einen die klinische Untersuchung, bei der wir uns anschauen, ob noch viel Wasser in den Beinen ist und ob das Wasser wegdrückbar ist. Und dann ist der zweite und entscheidende Schritt sich ein Bild durch bildgebende Diagnostik zu machen, inwiefern noch Lymphgefäße verfügbar sind die noch gut funktionieren, um in der Operation erfolgreich angeschlossen bzw. umgeleitet werden zu können."
Und wie kann dann nach neustem Stand chirurgisch geholfen werden?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Ein sehr feines, funktionelles und erfolgreiches Verfahren sind die sogenannten „Lymphovenösen Anastomosen“, die wir gern LVA abkürzen.
Ich halte sie für eine innovative chirurgische Behandlungsmethode, die in Deutschland in nur wenigen Kliniken durchgeführt wird. Der Erfolg in der Technik liegt neben der Naht mit superfeinen Fäden der Stärke 11-0 (ca. 0,015 mm), Spezial-Mikroskopen und der richtigen, zitterfreien Hand auch in der Auswahl der richtigen Lymphgefäße auf verschiedenen Höhen, damit diese an geeigneten Venen mit gutem Rückstrom verbunden werden können.
Auch die Techniken der Lymphknotenverpflanzung mit Gefäßanschluss (sog. vaskularisierte Lymphknotentransfers), die wir bei fehlenden funktionellen Lymphbahnen durchführen, sind immer sicherer und erfolgreicher geworden."
Können Sie die Technik erklären? Ist das zu Vergleichen mit einem Bypass am Herzen?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Ja genau, es handelt sich letztlich um eine Bypass-OP. Ganz ähnlich wie bei einem Bypass am Herzen, bei dem man einen Umweg über eine Zusatzvene legt, werden hier Lymphgefäße an Venen verbunden. Durch diese Verbindung kann die gestaute Lymphe abfließen, bevor diese in die Verletzungsregion kommt, und lagert sich nicht im Gewebe ab und hinterlässt dort einen Schaden.
Um zu entscheiden, an welchen Stellen ein solcher Bypass gelegt werden kann, erfolgt zunächst eine spezielle Form der Bildgebung. Hat sich ein Lymphödem am Bein gebildet, wird eine kleine Menge fluoreszierender Farbstoff direkt unter die Haut zwischen den Zehen bzw. Fingern oder in der Nähe der Region eingespritzt. Die Lymphgefäße werden so in Echtzeit sichtbar. Bei gesunden, funktionierenden Lymphgefäßen fließt der Farbstoff in ungebrochenen Bahnen hin zur Körpermitte in die Lymphknotenstationen, was nur wenige Minuten dauert. Sind die Gefäße verstopft oder durchtrennt, kann die Lymphe nicht weitertransportiert werden. Im Infrarotbild erscheint dann ein diffuses Leuchten im Gewebe, was für den Lymphstau bzw. ein Lymphödem spricht.
Vor dem operativen Eingriff zeichnen wir auf der Haut des Patienten bzw. der Patientin die Stelle ein, bis zu der wir das noch intakte Lymphgefäß bzw. den Lymphfluss nachverfolgen können. Hier setzen wir einen kleinen Schnitt. Dann wird der Bypass gelegt, das heißt, das Lymphgefäß wird direkt mit der Vene verbunden. Sie ist damit in der Lage, Lymphe zu entsorgen und über die Nieren auszuscheiden.
Ist das Bild überlagert, nutzen wir die Zusammenarbeit mit Radiologen, diese Untersuchung als Magnetresonanztomographie und Lymphografie und dreidimensionale Auflösung durchzuführen."
Wie risikoreich ist dieser Eingriff?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Um mithilfe des Mikroskops die weniger als zwischen 0,3-0,8 mm feinen Bypässe zu legen, bedarf es nicht nur extrem feiner Instrumente, sondern auch ultrafeiner Fäden – solche, die man mit bloßem Auge gar nicht sieht. Diese haben einen Fadendurchmesser von gerade mal 0,015mm. Für den Patienten, die Patientin ist es kein großer Eingriff mit sehr wenig Risiko. Im besten Fall erleben wir schon während der Operation, dass das Gewebe weicher wird und der Überdruck sich abbaut."
Sie haben jüngst mit zwei internationalen Kollegen und einer Kollegin ein englischsprachiges Lehrbuch zur modernen chirurgischen Behandlung des chronischen Lymphödem herausgegeben („Modern Surgical Managament of Lymphedema“). Was ist neu in der chirurgischen Behandlung und welche Rolle spielen dabei die Mikrochirurgie und die Supermikrochirurgie?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Wir haben über die letzten sieben Jahren mit zahlreichen namenhaften internationalen Autoren, die auf dem Gebiet alle Experten sind, alle wichtigen Themenfelder der erfolgreichen Behandlung zusammengestellt. Das Ganze wurde mit sehr guten Bildmaterial veranschaulicht, um dieses sehr rare Feld einer breiteren Menge von Patienten/Patientinnen und vor allem Chirurgen/Chirurginnen zugänglich zu machen. Auch wenn dieses Fach sehr viele eigene Besonderheiten mit sich bringt und eine eher flache Lernkurve, so ist es als feines Handwerk mit smarter Strategie erlernbar und wir sehen uns in der Pflicht, dieses Wissen strukturiert weiterzugeben.
Was wir im Bereich der präoperativen Diagnostik in den letzten Jahren gelernt haben, ist, dass wir als Mikrochirurgen und Mikrochirurginnen die intakten Lymphgefäße auffinden müssen, und deren Funktionalität klären müssen.
Zudem sind wir zu der Erkenntnis gelangt, dass die Saugungsverfahren (Lympho-Liposuktion) sicher sind und zum langfristigen Erfolg führen, wenn die ableitenden Verfahren oder die Lymphknotenverpflanzungen nicht mehr indiziert sind und die Patienten/Patientinnen bereit sind, ein Leben lang Kompressionswäsche zu tragen.
Wir haben auch zusammengefasst, wie wichtig alternative Strategien sind, um Gewebezüchtung zu verfolgen und die Schädigung von Lymphknotenstationen bei der Entnahme für die Heilung einer Region an der Hebestelle möglichst gering zu halten.
Für diese supermikrochirurgischen Verfahren haben wir mittlerweile zwei Roboter Systeme auf dem Markt zur Verfügung. Prinzipiell bringt ein Roboter natürlich Vorteile mit sich, denn der Roboter kann Millimeter genau dort ansetzen, wo es nötig ist, ohne im richtigen Moment zu „verwackeln“ – wir nennen das Tremor – und an Stellen ergonomisch fein zu arbeiten, an die der Operateur/die Operateurin ansonsten nur schwer hinkommt. Wir müssen hier mit superfeinen Instrumenten und Fäden hoch konzentriert arbeiten, denn durch das obligatorische Muskelzittern eines Menschen kann es zu leichten Abweichungen kommen.
Zudem gibt es Tests mit Virtual Reality Brillen und Exoskopen, bei dem ein 3D Monitor zur Verfügung steht. Hier engagieren sich auch die BG Kliniken in Deutschland, da erkannt wurde, dass dies gerade bei so feinen Strukturen und Gefäßen einen großen Vorteil bietet - für Patienten und Patientinnen sowie Chirurgen und Chirurginnen."
Was ist bezüglich der Anästhesie bei einer solchen OP zu beachten, und wie lange
müssen die Patienten bzw. Patientinnen stationär aufgenommen werden?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Der stationäre Aufenthalt richtet sich in dem Zusammenhang eigentlich nur danach, inwieweit wir direkt nach der Operation kontrollbedürftige Situationen (Befunde) vorfinden. Der Eingriff, indem man viele kleine Lymphovenöse Anastomosen (LVA) durchführt, ist ein Eingriff, den man ohne Problem mit lokaler Anästhesie durchführen könnte.
Das große Aber ist, dass diese Operationen je nach Ausmaß sechs bis acht Stunden dauern und das ist etwas, was wir unseren Patienten und Patientinnen in Rücksprache nicht zumuten können. Da es sehr unangenehm ist, sechs bis acht Stunden ruhig dazuliegen. Wackelt oder zappelt der Patient/Patientin sind diese kleinen Vergrößerungen plötzlich sehr stark sichtbar.
Übrigens, unsere Anästhesistinnen und Anästhesisten setzen hier VR-Brillen ein, um die Patientinnen und Patienten mit Videos abzulenken.
Alle anderen Operationen sind dann eher in Vollnarkose und der stationäre Aufenthalt ist der Erfahrung nach kontrollbedürftig - so etwa drei bis sieben Tage.
Was ist nach der OP zu beachten?
Prof. Dr. med. Christoph Hirche: “Nach der OP ist zu beachten, dass die Patienten und Patientinnen mit einem Lymphödem oft mit einer hohen Infektanfälligkeit zu kämpfen haben.
Hier bietet sich für ein paar Tage eine Antibiotika-Therapie an, um eben diese höhere Infektanfälligkeit auch einzufangen. Unser Therapieziel ist es, dass die Patienten und Patientinnen eine Umfangsreduktion erreichen, also weniger Umfang und damit auch weniger Last mit sich tragen.
Dadurch wird nicht nur die Lebensqualität besser, sondern auch die Infektanfälligkeit geringer. Die Patienten/Patientinnen werden langfristig an ihre Lymphtherapeuten angebunden. Das gemeinsame Ziel ist eine Verbesserung von Form, Funktion, Lebensqualität und körperlicher Integrität und eine Reduktion/Verlust des spezifischen Stigmata."