Schritt für Schritt zurück ins Leben
Integrierte Versorgung schafft neue Perspektiven
Als Kohei Matsumoto im Sommer 2020 in das BG Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum eingewiesen wird, ist sein Zustand kritisch. Die Hälfte seiner Körperoberfläche ist verbrannt. Die Ursache: Bei der Arbeit in seinem Imbisswagen war es plötzlich zu einer starken Explosion gekommen. Auf der Intensivstation für Schwerbrandverletzte sichten die Ärzte die Verletzungen. Viele Körperbereiche von Herrn Matsumoto sind von tiefen Verbrennungen betroffen. Dazu zählen beide Beine, der linke Arm, die rechte Hand, der Rücken und die Brustwand. Für die Experten ist sofort klar: die Verletzungen sind lebensbedrohlich.
Um den Zustand des Patienten zu stabilisieren, erhält er sofort einen Katheter zur Flüssigkeitsgabe und wird maschinell beatmet. Im linken Arm besteht die Gefahr eines sogenannten Kompartmentsyndroms, auch Muskelkompressionssyndrom genannt: Die umgreifende, tiefgradige Verbrennung könnte zu einem steigenden Gewebedruck im betroffenen Arm und somit zu einer verringerten Gewebedurchblutung führen. Die Ärzte befürchten ein Absterben der Muskulatur in Ober- und Unterarm. Abhilfe schafft ein modernes Verfahren der Wundreinigung: Hierbei werden die betroffenen Stellen durch spezielle Enzyme „aufgeweicht“, damit gestaute Wundflüssigkeit abfließen kann (sogenanntes enzymatisches Wunddebridement).
Lebensrettende Versorgung im Verbrennungszentrum
Die großflächigen Hautverbrennungen von Herrn Matsumoto müssen umgehend versorgt werden. Das Verbrennungszentrum am Bergmannsheil, das zur Klinik für Plastische Chirurgie gehört, ist dafür bestens ausgestattet. Ein eingespieltes Team aus plastischen Chirurgen, Anästhesisten und Fachkräften für OP-, Anästhesie- und Intensivpflege steht jederzeit bereit, um Notfallpatienten fachgerecht behandeln zu können. Die Versorgung des Patienten erfolgt in einem speziellen OP-Saal, der im Bedarfsfall auf 24 Grad Celsius aufgeheizt werden kann, um ein Auskühlen des Patienten zu vermeiden. „Hautverbrennungen können nicht nur dazu führen, dass der Patient auskühlt und Flüssigkeit verliert“, erklärt Prof. Dr. Marcus Lehnhardt, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Bergmannsheil. „Vor allem steigert der Hautverlust das Risiko von Infektionen, sodass während der operativen Versorgung besonders hohe Hygienestandards eingehalten werden müssen.“
Wichtigstes operatives Ziel bei Schwerbrandverletzten ist es daher, die verbrannten Areale abzutragen und die Wunden mit Hautersatzmaterial abzudecken. „Je nach Größe und Tiefe der erforderlichen Gewebeabtragung verwenden wir unterschiedliche Hautersatzverfahren“, so Oberarzt Dr. Martin Siebeck. „Zum Einsatz kommen sowohl Eigenhauttransplantationen wie künstlicher Hautersatz.“ Insgesamt fünf Operationen sind im Fall von Herrn Matsumoto nötig. Dazu erhält er einen Luftröhrenschnitt, sodass er über einen längeren Zeitraum mit geringeren Komplikationen maschinell beatmetet werden kann.
Dank der schnellen und umfassenden Akutversorgung stabilisiert sich der Zustand des Patienten deutlich. Auf der Intensivstation wird er sehr engmaschig betreut und überwacht: Mehrmals täglich müssen seine Wunden versorgt werden. Dazu erhält er eine schmerzmedizinische Behandlung und bereits auf der Intensivstation beginnen physio- und ergotherapeutische Maßnahmen. Im weiteren Verlauf müssen problematische Narbenbildungen operativ korrigiert werden.
Nach Akutversorgung intensives Reha-Programm
Nach zwei Monaten intensivster Versorgung ist der Zustand von Herrn Matsumoto ausreichend stabil, aber seine Bewegungs- und manuellen Fähigkeiten sind noch stark eingeschränkt. Ärzte und Reha-Manager der zuständigen Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) begutachten den Zustand des Patienten. Er kann nur kurze Gehstrecken bewältigen, seine Beweglichkeit ist in allen Gelenken eingeschränkt. Daher hat er bei verschiedenen Handlungen und Tätigkeiten zum Teil erhebliche Probleme, beispielsweise beim Öffnen von Verschlüssen, bei der Nutzung von Besteck oder beim Waschen. Die Experten kommen zu dem Schluss: Herr Matsumoto braucht ein spezielles Rehabilitationsprogramm, eine sogenannte Komplexe Stationäre Rehabilitation (KSR).
"Damit schließt die KSR die sogenannte Reha-Lücke, bei der die Patienten zu gesund für die akutstationäre Behandlung, aber noch nicht gesund genug für eine konventionelle Rehabilitation sind. Die KSR wird ärztlich sehr engmaschig geführt, bei Bedarf kommen Kolleginnen und Kollegen aus den benötigten Akutabteilungen hinzu und begleiten ihren Patienten auch in der Phase der Rehabilitation", erklärt Dr. Sven Jung. Mindestens vier bis sechs Stunden Therapie an sechs Tagen pro Woche – überwiegend als Einzeltherapie – werden eingeplant.
Reha-Therapie, Schmerzmedizin und psychologische Versorgung
Nach der Verlegung von Herrn Matsumoto auf die Reha-Station des Bergmannsheils beginnt umgehend seine Therapie: Auf dem Programm stehen zunächst die passive und unterstützende Beübung aller Gelenke, die Bewegungstherapie von Armen und Beinen an der Bettkante, Gangtraining im Zimmer und die Anpassung von nötigen Hilfsmitteln. Dazu zählen etwa ein spezielles Besteck zum selbstständigen Essen und Kompressionswäsche zur Narbenbehandlung. Noch ist der Patient in seiner Therapiefähigkeit eingeschränkt, daher erhält er eine intensive schmerztherapeutische Begleitung und eine psychologische Betreuung. Bei dramatischen Unfallverletzungen, wie sie Herr Matsumoto erlitten hat, ist die psychologische Behandlung ein wesentlicher Baustein der Therapie. Anfangs führen Psychologin und Patient fast täglich Gespräche, unterstützt von Dolmetschern, weil Herr Matsumoto nur eingeschränkt deutsch spricht. Vorrangig auffällig sind bei ihm einzelne depressive Symptome, aber auch Schamgefühle aufgrund seiner Verletzungen.
Bereits in der zweiten Woche kann das Behandlungsteam die Trainingsintensität steigern. Er übt mit dem Armfahrrad, einem speziellen Trainingsgerät, macht weitere Übungen zur aktiven Mobilisation der oberen Extremitäten, trainiert die großen Gelenke und die Fingerbeweglichkeit. Mit manueller Lymphdrainage wird der Abfluss der Lymphflüssigkeit befördert. In den folgenden Wochen bereiten Herrn Matsumoto vor allem seine Narben große Probleme. Sie prägen sich immer stärker aus und verursachen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Die Therapeuten arbeiten daher mit regelmäßiger Dehnung und Massagen dagegen an.
Ansonsten zeigen sich aber auch deutliche Fortschritte: Ab der fünften Behandlungswoche kann Herr Matsumoto deutlich längere Wegstrecken gehen. Er absolviert jetzt seine Therapieeinheiten mehr und mehr in den Therapieräumen des Reha-Zentrums und nicht mehr ausschließlich auf der Station. Auf dem Programm stehen beispielsweise medizinisches Gerätetraining, Übung am Handergometer und die Schulung der Feinmotorik am Solitärbrett. In der Woche darauf ist das Bewegungsausmaß seines linken Arms so weit verbessert, dass er an den WorkPark-Geräten in der Ergotherapie des Bergmannsheils verschiedene typische Arbeitssituationen trainieren kann. Dazu zählen die Greiffunktion der Hände, das filigrane Arbeiten über Kopf (Ein- und Ausdrehen von Schrauben) und das Umstecken von Griffen an einer Magnettafel von links nach rechts. „In der KSR geht es darum, die Mobilität und Belastbarkeit des Patienten schrittweise zu steigern. Dabei wird der Patient mehr und mehr an Situationen herangeführt, die sich sowohl im Alltag als auch im Beruf jederzeit einstellen können“, erklärt Dr. Jung.
Erfolgsfaktor Eigenmotivation
Jedoch: Immer wieder braucht Herr Matsumoto aufgrund der Schwere seines Unfalls, der psychischen Auswirkungen und des langwierigen Heilungsprozesses seiner Verbrennungsverletzungen psychologische und schmerztherapeutische Unterstützung. Dennoch hat sich sein Allgemeinzustand nach acht Wochen intensiver Behandlung und Therapie so weit verbessert, dass er endlich nach fast 4 Monaten im Krankenhaus nach Hause entlassen werden kann. Er hat beim Gehen deutlich an Sicherheit gewonnen, seine Armgelenke sind wieder weitgehend beweglich, seine rechte Faust schließt wieder komplett.
Vor allem aber ist er jetzt in der Lage, viele Übungen selbstständig durchzuführen. Nach seiner Entlassung aus dem Bergmannsheil im November 2020 steht jetzt die weitere ambulante Behandlung unter fortgesetzter Betreuung durch das Reha-Management der BGN an. Parallel hat der Patient regelmäßige ambulante Termine im Bergmannsheil, um auch die weiteren Fortschritte zu begleiten. Insgesamt zeigen sich alle Beteiligten sehr zufrieden mit dem erreichten Status:
"Ein ganz zentraler Erfolgsfaktor ist die Eigenmotivation des Patienten: Herr Matsumoto hat – trotz mancher Rückschläge – sich für seine Therapieeinheiten eigene Ziele gesetzt, die er erreichen möchte. Und dabei hat er meist sogar mehr als das selbst gesetzte Ziel erreicht", sagt Dr. Sven Jung.
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