Remdesivir
In den Medien wird der vom US-amerikanischen Pharma- und Biotechnologieunternehmen Gilead Sciences 2014 ursprünglich gegen das Ebola-Virus entwickelte, bisher nie als Arzneimittel zugelassene Wirkstoff Remdesivir als aussichtsreich gegen SARS-CoV-2 beurteilt. Die Ergebnisse erster klinischer Anwendungen sind vielversprechend, kontrollierte Studien müssen jedoch abgewartet werden.
Bei Remdesivir handelt sich um ein sogenanntes „Pro-Drug“ – die Substanz muss nach intravenöser Gabe zunächst durch Stoffwechselvorgänge im menschlichen Organismus in ihre aktive Form überführt werden. Um den Wirkmechanismus zu verstehen, ist zumindest ein kleiner Ausflug in den Aufbau der menschlichen Erbsubstanz vonnöten. In einem einseitigen Brief an den Herausgeber des Fachorgans Nature teilten die späteren Nobelpreisträger James D. Watson und Francis H. C. Crick am 25. April 1953 in unnachahmlicher britischer Zurückhaltung das Ergebnis ihrer langjährigen, mühevollen Forschungsarbeit mit: Sie berichten, dass die Erbsubstanz, die Desoxyribonukleinsäure (DNS, englisch DNA), aus einem schraubenförmigen Strang (der Doppelhelix) aus organischen Molekülen (Basen) besteht. Es handelt sich um Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T), die durch Zuckeranteile zu sogenannten Nukleosiden (aus Adenin wird so z.B. Adenosin), durch weitere Phosphatgruppen zu Nukleotiden werden. Innerhalb der Doppelhelix passen immer zwei dieser Moleküle wie bei einem Reißverschluss zusammen – A und T sowie C und G. Die DNA stellt die Blaupause für die Ribonukleinsäure (RNA) dar, die wiederum die Gussform für die Herstellung von wichtigen Eiweißen in unserem Körper repräsentiert. Ein Teil der Viren, wie auch das SARS-CoV-2, benutzt RNA als Erbinformation, die direkt von den menschlichen Eiweißfabriken erkannt werden kann. Bei der Synthese von Proteinen entsteht unter anderem ein virales Enzym, die RNA-abhängige RNA-Polymerase, die der Vervielfältigung der viralen RNA dient. Dieses Enzym wird durch Remdesivir gehemmt.
Sie kennen das lästige Klemmen eines Reißverschlusses, wenn einer der kleinen ineinandergreifenden Häkchen abgebrochen und weder ein Öffnen noch Schließen mehr möglich ist. Remdesivir stellt sozusagen eine bewusst eingebrachte Bruchstelle dar: Die Substanz ähnelt Adenosin, schleicht sich an dessen Stelle ein, blockiert aber aufgrund seiner chemischen Ungenauigkeit das Enzym (die sogenannte „RNA-Polymerase“), das aus der viralen RNA eine neue RNA ablesen soll. Stark vereinfacht bedeutet dies: keine Vervielfältigung der viralen RNA und somit auch keine Produktion neuer Viren. Der Wirkmechanismus von Remdesivir ist molekular erklärt, plausibel, und wird durch Experimente an Rhesus-Affen untermauert.
Im renommierten und international meinungsbildenden New England Journal of Medicine wurden die Ergebnisse der klinischen Anwendung der Substanz außerhalb des Indikationsspektrums („Compassionate Use“) an 61 Patientinnen und Patienten mit COVID-19 in den USA, Kanada, Europa und Japan berichtet. Von 53 dieser Teilnehmer standen ausreichende Daten über den klinischen Verlauf zur Verfügung. Eine klinische Besserung trat in 36 Fällen (68%) ein. Würde man diese Studie einhundertfach wiederholen, läge diese Rate 95 Mal in einem Bereich zwischen 54 und 80%. Die Sterblichkeit lag bei 7 von 53 Fällen (13%). Bei einhundertmaliger Wiederholung der Studie läge die Sterblichkeit 95 Mal zwischen 5 und 25%. Nahezu ein Viertel (12 von 53) aller Teilnehmer boten schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Ob diese jedoch ursächlich Remdesivir zugeordnet werden können, kann der Veröffentlichung nicht entnommen werden.
Fazit
Remdesivir besitzt aufgrund seines Wirkmechanismus Potenzial insbesondere für die Behandlung schwerer COVID-19-Erkrankungen. Die veröffentlichte unkontrollierte Anwendungsbeobachtung, vorrangig aber Presseberichte über Erfolge der Behandlung von COVID-19-Patient(inn)en mit Remdesivir in Chicago, USA, müssen noch zurückhaltend beurteilt werden. Remdesivir wird in internationalen randomisierten Studien wie SOLIDARITY, DISCOVERY und RECOVERY geprüft, und erst der Vergleich mit anderen Therapieansätzen wird eine Nutzenbewertung der Substanz erlauben. Außerhalb kontrollierter Studien sollte aber aufgrund des biologisch plausiblen Wirkmechanismus die klinische Anwendung unter „compassionate use“ Auflagen vor allem bei schweren COVID-19-Verläufen ermöglicht werden.
Stand: 23.04.2020